Chemiker helfen dem Zufall auf die Sprünge
Screening einer Vielzahl an Substraten in Gegenwart eines Photokatalysators, mit dem chemische Reaktionen durch Licht ausgelöst und gesteuert werden. © Felix Strieth-Kalthoff
Ein Leben ohne synthetisch hergestellte Verbindungen ist im heutigen Alltag kaum vorstellbar – egal ob Kunststoffe wie PET und Teflon, Medikamente oder Geschmacks- und Aromastoffe. Um entsprechende Moleküle herzustellen, ist die chemische Industrie auf effiziente und nachhaltige Methoden angewiesen. Häufig verwenden Chemiker hierzu Katalysatoren, also Zusatzstoffe, mit denen sie eine chemische Reaktion ermöglichen und steuern können. Wie aber werden solche Reaktionen entdeckt und entwickelt?
Hierzu sind viel Wissen und Verständnis gefragt – nicht selten spielt aber auch der Zufall eine entscheidende Rolle. Ein Team um Chemiker der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) hat eine Strategie entwickelt, um solche „Zufallstreffer“ in systematischer Art und Weise zu generieren und so neue und unerwartete Reaktionen zu entdecken. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „Chem“ erschienen.
Hintergrund und Methode:
Eine systematische Durchführung vieler Experimente wird als Screening
bezeichnet und ist vor allem im Bereich der pharmazeutischen
Wirkstoffforschung etabliert. Das hier entwickelte Screening zur
Reaktionsentdeckung kombiniert zwei Schritte, die verschiedene
Einzelteile einer Reaktion abdecken und in Kombination dazu führen
sollen, neue synthetisch relevante Reaktionen zu entdecken. Im ersten
Schritt untersuchen Chemiker, ob ein mögliches Substrat überhaupt mit
dem Katalysator interagiert. Hierzu wird im Falle von
Photokatalysatoren, mit denen chemische Reaktionen durch Licht ausgelöst
und gesteuert werden, das Phänomen der Emissionslöschung ausgenutzt:
Verringert ein Substrat die Emission, also die Leuchtkraft des
Katalysators, ist eine Wechselwirkung zwischen Katalysator und Substrat
wahrscheinlich. Durch das systematische Screening einer Vielzahl
zufällig ausgewählter Verbindungen können so neue Moleküle identifiziert
werden, deren Interaktion mit Katalysatoren bisher noch nicht bekannt
war.
Die Wechselwirkung zwischen Substrat und Katalysator allein macht jedoch noch keine Reaktion: Aus diesem Grund wird im zweiten Screening-Schritt untersucht, ob in Gegenwart eines Reaktionspartners und des Katalysators tatsächlich eine Reaktion stattfindet. Somit werden durch die Kombination zweier Screening-Schritte erstmals beide Partner einer neuen Reaktion identifiziert, die hierbei zu einem neuen Produkt reagieren. „Diese zweidimensionale Strategie erlaubt es uns, nicht nur neue Katalysator-Substrat-Interaktionen zu finden, sondern tatsächlich neue Reaktionen zu entdecken – auch solche, die wir vorher nicht erwartet hatten“, erläutert Prof. Dr. Frank Glorius vom Organisch-Chemischen Institut der WWU.
Entdeckung unerwarteter Reaktivität
So geschehen in dieser Studie: Die Autoren konnten auf diese Art drei
neue, bis dahin nicht bekannte Reaktionen entdecken und
weiterentwickeln. Eine dieser Reaktionen ist eine lichtvermittelte
sogenannte Cycloaddition. Hierbei werden einfache, flache Moleküle, die
Benzothiophene, in komplexe, dreidimensionale Strukturen überführt. „Auf
dem Papier formuliert, hätte ich diese Reaktion nicht für möglich
gehalten, denn aus energetischer Sicht dürfte der Schlüsselschritt
dieser Reaktion eigentlich nicht funktionieren“, erklärt Felix
Strieth-Kalthoff, Doktorand und Erstautor der Studie.
Um dem auf den Grund zu gehen, kontaktierten die Chemiker der WWU Prof. Dr. Dirk Guldi von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, der mit seiner Gruppe als weltweit führender Experte für die Untersuchung photochemischer Prozesse gilt. Mithilfe von Messungen in Form von Ultrakurzzeit-Spektroskopie konnte das Team, gemeinsam mit Kollegen vom Leibniz-Institut für Oberflächenmodifizierung in Leipzig, Licht ins Dunkel bringen: Die Chemiker verwendeten extrem kurze Laserpulse, um die Einzelschritte der Reaktion gezielt zu beobachten und zu untersuchen. „Wir können die zugrunde liegenden molekularen Prozesse des Triplett-Triplett-Energietransfers, also des zentralen Aktivierungsschritts, jetzt wesentlich besser erklären“, betont Dirk Guldi. „Das bessere Verständnis erlaubt schließlich die Entwicklung neuer Prozesse und Katalysatoren.“
Dieses Beispiel zeigt, dass die Ergebnisse eines solchen Screening-Ansatzes nicht nur neue Reaktionen hervorbringen, sondern darüber hinaus auch zu einem tieferen Verständnis der Materie beitragen können. „Wir sind davon überzeugt, dass diese Strategie auch in anderen Gebieten der Katalyse und darüber hinaus Anwendung finden kann“, betont Frank Glorius.
So arbeitet das Team bereits mit Hochdruck an der Entwicklung neuer Screeningverfahren, um neue Reaktionsklassen entdecken und verstehen zu können. Hierzu setzen die Wissenschaftler unter anderem neueste Computertechnologien ein. Frank Glorius ist sich sicher: „Die Entdeckung neuartiger Reaktionen durch datenbasierte Strategien, wie zum Beispiel solche Screeningverfahren, wir die Entwicklung der synthetischen Chemie entscheidend verändern.“
Förderung:
Diese Arbeit wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
gefördert: Im Schwerpunktprogramm (SPP) 2102 „Lichtkontrollierte
Reaktivität von Metallkomplexen“ arbeiten Chemiker und Physiker der WWU
gemeinsam mit weiteren Arbeitsgruppen, vor allem in Deutschland, an der
Entwicklung innovativer, lichtvermittelter Prozesse.