Eine Legierung, die bei hohen Temperaturen ihr Gedächtnis behält
Alexander Paulsen (rechts) und Alberto Ferrari haben Theorie und Praxis zusammengebracht. © RUB, Marquard
Per Computersimulation berechnete Alberto Ferrari einen Designvorschlag für eine Formgedächtnislegierung, die auch bei hohen Temperaturen lange leistungsfähig bleibt. Alexander Paulsen stellte sie her und bestätigte experimentell die Vorhersage. Mit der Legierung aus Titan, Tantal und Skandium steht nicht nur eine neue Hochtemperaturformgedächtnislegierung zur Verfügung. Das Forschungsteam vom Interdisciplinary Centre for Advanced Materials Simulation (Icams) und vom Institut für Werkstoffe der Ruhr-Universität Bochum (RUB) hat auch gezeigt, wie man mithilfe theoretischer Vorhersagen schneller zu neuen Materialien kommt. Die Gruppe berichtet in der Zeitschrift Physical Review Materials vom 21. Oktober 2019. Ihre Arbeit wurde als Editor’s suggestion hervorgehoben.
Unerwünschte Phase vermeiden
Formgedächtnislegierungen können nach einer Verformung ihre
ursprüngliche Gestalt wieder einnehmen, wenn sich die Temperatur ändert.
Diese Umformung beruht auf einer Umwandlung des Kristallgitters, in dem
die Atome der Metalle angeordnet sind. Die Forscher sprechen von einer
Phasenumwandlung. „Neben den erwünschten Phasen gibt es aber auch
solche, die sich dauerhaft bilden und den Formgedächtniseffekt erheblich
schwächen oder sogar völlig zerstören“, erklärt Dr. Jan Frenzel vom
Institut für Werkstoffe. Die sogenannte Omega-Phase tritt jeweils bei
einer bestimmten Temperatur auf, die von der Zusammensetzung des
Materials abhängt. Viele bisherige Formgedächtnislegierungen für den
Hochtemperaturbereich hielten jeweils nur wenige Verformungen aus, bevor
sie durch die Bildung der Omega-Phase unbrauchbar wurden.
Vielversprechende Formgedächtnislegierungen für den Hochtemperatureinsatz basieren auf einer Mischung aus Titan und Tantal. Durch die Veränderung der Anteile dieser Metalle in der Legierung können die Forscher beeinflussen, bei welcher Temperatur die Omega-Phase eintritt. „Allerdings ist es leider so, dass man dadurch zwar diese Temperatur nach oben schieben kann, dabei aber auch die Temperatur der erwünschten Phasenumwandlung senkt“, so Jan Frenzel.
Beimischung verändert die Eigenschaften
Die Forscherinnen und Forscher der RUB wollten die Mechanismen des
Eintritts der Omega-Phase im Detail verstehen und so Wege finden, die
Leistungsfähigkeit von Formgedächtnislegierungen für den
Hochtemperaturbereich zu verbessern. Dazu berechnete Alberto Ferrari,
Doktorand am Icams, die Stabilität der jeweiligen Phasen in Abhängigkeit
von der Temperatur für verschiedene Zusammensetzungen aus Titan und
Tantal. „Er konnte damit die Ergebnisse aus Experimenten bestätigen“,
berichtet Dr. Jutta Rogal vom Icams.
Im nächsten Schritt simulierte Alberto Ferrari die Beimischung
kleiner Mengen dritter Elemente in die Formgedächtnislegierung aus Titan
und Tantal. Die Kandidaten wählte er nach bestimmten Kriterien aus, zum
Beispiel sollten sie möglichst ungiftig sein. Dabei kam heraus, dass
eine Beimischung von wenigen Prozent Skandium dazu führen müsste, dass
die Legierung auch bei hohen Temperaturen lange funktioniert. „Skandium
gehört zwar zu den Seltenen Erden und ist entsprechend teuer. Aber da
wir davon nur sehr wenig brauchen, lohnt sich der Einsatz trotzdem“,
erklärt Jan Frenzel.
Vorhersage trifft genau ein
Alexander Paulsen stellte dann die von Alberto Ferrari berechnete
Legierung im Institut für Werkstoffe her und prüfte ihre Eigenschaften
im Experiment: Die Ergebnisse bestätigten die Berechnungen. Eine
mikroskopische Untersuchung der Proben belegte später, dass tatsächlich
auch nach vielen Verformungen keine Omega-Phase im Kristallgitter der
Legierung zu finden war. „Wir haben damit nicht nur unser
Grundlagenwissen über titanbasierte Formgedächtnislegierungen erweitert
und mögliche neue Hochtemperaturformgedächtnislegierungen entwickelt“,
so Jan Frenzel. „Es ist auch hervorragend, dass die Vorhersagen der
Computersimulation so genau zutreffen.“ Da die Herstellung solcher
Legierungen sehr aufwendig ist, verspricht die Umsetzung
computergestützter Designvorschläge für neue Materialien wesentlich
schnellere Erfolge.
Förderung
Die Arbeiten wurden finanziell unterstützt von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Forschungsgruppe 1766
(Projektnummer 200999873). Teile der Berechnungen wurden auf
Supercomputern der Swedish National Infrastructure for Computing im
National Supercomputer Centre (NSC) in Linköping und im Center for High
Performance Computing in Stockholm durchgeführt.