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Der Kleber, der Materie zusammenhält

Gluonen halten Teilchen über die starke Wechselwirkung zusammen. Sie sind quasi der Klebstoff der Teilchenwelt. © Damian Gorczany

Forschende aus aller Welt suchen mit aufwendigen Experimenten nach den mysteriösen Gluebällen: Teilchen, die nur aus der Kraft bestehen, die Materie zusammenhält. Möglicherweise haben sie schon einen gesehen.

Vieles in der Welt um uns herum nehmen wir für gegeben hin. Wenn wir an einem Frühlingsmorgen auf den Balkon hinaustreten, wundern wir uns nicht darüber, dass der Boden unter unseren Füßen fest ist. Wir atmen selbstverständlich die gasförmige Luft und können bei Bedarf die Blumen mit Wasser gießen. Nichts davon kommt uns außergewöhnlich vor. Wenn man aber ganz tief hineinblickt in die Materie, die uns umgibt, findet sich allerhand Erstaunliches. Beispielsweise die Tatsache, dass die Gießkanne so schwer ist, wie sie ist.

Nicht direkt mit Gießkannen, aber mit erstaunlichen Phänomenen der Teilchenphysik befasst sich Prof. Dr. Ulrich Wiedner – unter anderem mit der Frage, wie Masse entsteht. Der Experimentalphysiker ist seit vielen Jahren Mitglied großer Forschungskollaborationen und auf der Suche nach exotischen Teilchen. Dabei interessiert er sich besonders für die sogenannten Gluonen. Diese Teilchen sind die Träger der starken Wechselwirkung, sozusagen der Kleber im Inneren der Materie. Atomkerne bestehen aus positiv geladenen Protonen und ungeladenen Neutronen. Diese wiederum sind aus kleineren Teilchen zusammengesetzt, den Quarks. Die Gluonen sorgen dafür, dass die Quarks zusammenhalten. Dabei entstehen einige merkwürdige Phänomene.

Die Masse des Protons ist bislang nicht zu erklären
Drei Quarks bilden zusammen ein Proton. Aber die Masse des Protons ist rund zehnmal schwerer als die Massen der drei Quarks zusammengenommen. Wie entsteht diese zusätzliche Masse? „Sie muss aus der starken Wechselwirkung kommen, in der sehr viel Energie steckt“, ist Ulrich Wiedner überzeugt.

Will man all die Phänomene erklären können, die sich um die starke Wechselwirkung ranken, so muss man die starke Wechselwirkung selbst verstehen, das heißt die Natur der Gluonen ergründen. Aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften (siehe Infobox) ist davon auszugehen, dass Gluonen nicht nur als einzelne Wechselwirkungsteilchen zwischen Quarks existieren, sondern auch Zusammenschlüsse bilden, also untereinander wechselwirken können. Die Theorie sagt voraus, dass Teilchen aus mehreren Gluonen existieren müssten: die sogenannten Gluebälle. Sie würden nur aus der starken Wechselwirkung bestehen, also nur aus dem Kleber, der Materie zusammenhält. „Gluebälle nachweisen zu können, wäre ein Traum“, schwärmt Wiedner.

Allerdings ist dieser Nachweis eine besondere Herausforderung, wie der Experimentalphysiker aus jahrelangen Versuchen an Teilchenbeschleunigern weiß. Er und sein Team sind am BESIII-Experiment in China beteiligt, das am „Beijing Electron Positron Collider“ angesiedelt ist. Wie der Name sagt, lässt dieser Teilchenbeschleuniger Elektronen und ihre Antiteilchen, die Positronen, miteinander kollidieren.

Bei den Kollisionen wandeln sich Elektron und Positron in andere Teilchen um, wobei das Ergebnis nicht immer das gleiche ist. Die Forschenden untersuchen, welche Teilchen aus der Energie der Kollision entstehen, und vor allem suchen sie in den Zerfällen der entstandenen Teilchen nach neuen Teilchen, die bislang noch nie nachgewiesen wurden. Zum Beispiel Gluebälle. „Allerdings tragen die kein Fähnchen mit sich rum, auf dem steht: ‚Ich bin ein Glueball‘“, veranschaulicht Ulrich Wiedner das Dilemma.

Zwei Kandidaten für Gluebälle
Immerhin hat das BESIII-Experiment bereits einen Kandidaten für einen Glueball identifiziert. „Wir wissen, dass es sich um ein neues Teilchen handelt, aber wir können nicht zweifelsfrei beweisen, dass es ein Glueball ist“, erklärt der Physiker. Konkret sieht das Forschungsteam drei Teilchen mit bestimmten Eigenschaften, obwohl nach theoretischen Vorhersagen eigentlich nur zwei Teilchen erklärbar sind. „Dieses dritte Teilchen muss etwas Neues sein, etwas, das nicht vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagt wird. Ein Glueball ist die wahrscheinlichste Erklärung“, so Wiedner.

Das Problem ist: Andere Teilchen versperren den klaren Blick auf den vermeintlichen Glueball. Die drei Teilchen, die in dem beobachteten Zerfall entstehen, leben nur sehr kurz. Sie können weiter zerfallen und sich dabei ineinander umwandeln. So kann ein Glueball auch zu einem der anderen Teilchen werden, das ursprünglich mit ihm im Zerfall entstanden war.

Software für die Datenanalyse entwickelt
Um die komplexen Daten besser auswerten zu können, hat das Bochumer Team ein Programm namens PAWIAN entwickelt. Die Bezeichnung leitet sich von der Methode der Partialwellenanalyse ab, ein mathematisches Verfahren, mit dem die Forschenden herausfinden wollen, welche Teilchen in den gemessenen Daten stecken könnten.

Für die Datenanalyse trägt Wiedners Team in Diagrammen die Anzahl der gemessenen Zerfälle bei bestimmten Energien auf. Die Peaks der so entstehenden Kurve repräsentieren dabei bestimmte Teilchensorten. Sind mehrere Peaks in einer Kurve sichtbar, sind auch mehrere Teilchensorten im Zerfallsprozess entstanden. Problematisch wird es, wenn die Peaks nah beieinanderliegen und sich gegenseitig überlagern. Mithilfe von PAWIAN vergleichen die Forschenden theoretische Vorhersagen mit gemessenen Daten. Sie sagen voraus, wie eine Kurve aussehen müsste, wenn eine bestimmte Kombination von Teilchen in einem Zerfall entstanden wäre, und legen diese Kurve über die echten Daten. So können sie prüfen, welche Teilchen-Kombinationen die Messergebnisse am besten erklären können. Die Vorhersagen für einen Glueball passen dabei gut zu den Daten des BESIII-Experiments.

Viele Sorten von Gluebällen denkbar
Die rätselhaften Teilchen aus dem BESIII-Experiment sind dabei sicher nicht die einzigen Kandidaten für Gluebälle. Denn theoretisch sollte es viele verschiedene Gluebälle geben, die zum Beispiel einen unterschiedlichen Spin haben müssten. Als Spin bezeichnet man den Eigendrehimpuls eines Teilchens. Das BESIII-Experiment kann nur Gluebälle mit niedrigem Spin hervorbringen. Denn in dem Beschleuniger prallen zwei Teilchen – Elektron und Positron – aufeinander, die beide einen Spin von ½ besitzen, zusammengenommen also 1. Diese Spinzahl muss nach der Kollision erhalten bleiben, was den Spin des Glueballs limitiert.

Auch wenn das BESIII-Experiment nur eingeschränkte Möglichkeiten bei der Glueball-Suche bietet, wird es Ulrich Wiedner nicht langweilig, in den Daten nach neuen Teilchen zu fahnden. „Das macht sehr viel Spaß – und in den Daten, die wir gerade analysieren, sehen wir Merkwürdigkeiten“, verrät der Physiker. „Wir wissen nur noch nicht, was sie bedeuten.“ Aber Merkwürdigkeiten sind oft der Anfang einer neuen Teilchenentdeckung.

Neues Experiment könnte verschiedene Gluebälle zutage fördern
Mit BESIII wird es wohl nicht gelingen, Gluebälle zweifelsfrei zu identifizieren. Aber die nächste Hoffnung steht schon in den Startlöchern. In Darmstadt läuft der Bau eines neuen Teilchenbeschleunigers, an dem das Experiment PANDA (antiProton ANnihilation at DArmstadt) laufen soll. Hier sollen sich künftig Protonen und ihre Antiteilchen, die Antiprotonen, gegenseitig vernichten – ein weltweit einzigartiges Experiment, das keinerlei Spin-Limitationen hätte. Ulrich Wiedner hofft, dass hier der Nachweis verschiedener Gluebälle gelingen wird. Für ihn persönlich wird PANDA aber wohl zu spät kommen und erst nach seiner Pensionierung den Betrieb aufnehmen. Die Inflation hat die Preise für den Bau des Beschleunigers in unerwartete Höhe getrieben. Hinzu kommt, dass Russland sich mit 20 Prozent der Kosten beteiligen wollte, was durch den Angriffskrieg in der Ukraine und die damit verbundenen Sanktionen unrealistisch geworden ist. Der Bau der Anlage ist ins Stocken geraten.

Ganz bestimmt wird Ulrich Wiedner aber auch nach seiner Pensionierung weiterverfolgen, welche neuen Teilchen PANDA in Zukunft zutage fördern wird. Und vielleicht werden die Gluebälle gefunden, wenn er an einem schönen Frühlingsmorgen auf den Balkon hinaustritt und gerade ein wenig klarer geworden ist, wie Materie zusammenhält und warum der Boden unter seinen Füßen fest ist.

Quelle: RUB

Ruhr-Universität Bochum

Mitten in der dynamischen Metropolregion Ruhrgebiet im Herzen Europas gelegen ist die RUB mit ihren 20 Fakultäten Heimat von über 43.000 Studierenden aus über 130 Ländern.Ihren Erfolg in der Forschung verdankt die RUB der engen Verknüpfung der...mehr...