DeutschEnglish

Neu entdeckte Materialeigenschaft verspricht Innovationsschub in der Mikroelektronik

Die Kristallstruktur ferroelektrischer Materialien lässt sich durch elektrische Signale ändern. Nach Eintauchen in eine Säure wird der Unterschied im Rasterelektronenmikroskop sichtbar. Bereiche mit positiver Polarisation (rechts) wurden durch die Säure fast vollständig entfernt, während Bereiche mit negativer Polarisation (links) außerordentlich stabil sind. © Simon Fichtner

Zur Entwicklung permanenter Datenspeicher oder Mikroantriebe, zum Beispiel für Lautsprecher, forscht die Wissenschaft schon lange an sogenannten ferroelektrischen Materialien. Sie können ihre elektrische Ausrichtung ändern. Für die industrielle Anwendung waren sie allerdings zu wenig leistungsfähig oder zu unzuverlässig. Ganz neue Anwendungsmöglichkeiten könnte ein vielversprechendes ferroelektrisches Material eröffnen, das Materialwissenschaftler Simon Fichtner von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) entdeckt hat. In einem gemeinsamen Projekt mit dem Fraunhofer-Institut für Siliziumtechnologie in Itzehoe (ISIT) und dem Fraunhofer-Institut für angewandte Festkörperphysik in Freiburg (IAF) will er das Verhalten des Materials noch besser verstehen und in die Anwendung bringen. Es könnte völlig neue Konzepte in der Mikroelektronik und der Mikrosystemtechnik ermöglichen und damit die Leistung von Informationsspeichern und Mikroantrieben deutlich verbessern. Das im Oktober gestartete Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für vier Jahre mit 2,3 Millionen Euro gefördert.

Materialwissenschaftler beobachtet bisher unentdeckte Eigenschaft
Sie gehören zu den am meisten erforschten Materialien in der Mikroelektronik und Mikrosystemtechnik und sind unter anderem in Tintenstrahldruckern oder in Transistoren zu finden: Sogenannte Ferroelektrika sind permanent elektrisch ausgerichtet, auch ohne äußeres elektrisches Feld. Kommt ein elektrisches Signal von außen hinzu, verändert sich die Kristallstruktur des Materials auf atomarer Ebene – und damit seine elektrische Ausrichtung. Das macht vielfältige technische Anwendungen möglich.   

Im Rahmen seiner Doktorarbeit untersuchte Materialwissenschaftler Simon Fichtner Aluminium-Scandium-Nitrid (AIScN), das er im Reinraum des Nanolabors der CAU selbst hergestellt hatte. Dabei machte er eine unerwartete Beobachtung: Durch Anlegen großer elektrischer Felder ließ sich die Kristallstruktur des Materials um 180 Grad drehen. Damit hatte Fichtner einen ersten Hinweis auf Ferroelektrizität gefunden, den er durch weiterführende Experimente bestätigen konnte. In der Wissenschaft war diese Eigenschaft von AIScN bisher nicht bekannt.

Kopfhörer mit besserem Klang und weniger Energieverbrauch
“Wir wollten das Material eigentlich für besonders leistungsfähige Chip-Antriebe nutzen, zum Beispiel für Lautsprecher. Deshalb haben wir getestet, wieviel Spannung es verträgt“, erklärt der Materialwissenschaftler. „Wir hatten erwartet, dass es dabei irgendwann kaputtgeht. Stattdessen änderte es an einem bestimmten Punkt seine elektrische Polarisation ins Negative“, ergänzt sein Doktorvater Bernhard Wagner, Professor für Materialien und Prozesse der Nanosystemtechnik an der CAU und zugleich stellvertretender Leiter des ISIT.

Diese besondere Eigenschaft erhöht das technologische Potential des AIScN-Materials enorm, sind die beiden Wissenschaftler überzeugt. Im Vergleich zu anderen ferroelektrischen Materialien zeichnet sich AlScN außerdem durch eine deutlich verbesserte Stabilität und Leistungsfähigkeit aus. Gleichzeitig ist es technisch besonders gut kompatibel mit zentralen Technologien der Halbleiterindustrie. Mit AIScN hergestellte technische Bauteile könnten zum Beispiel Klang, Energieverbrauch und Lebensdauer von Kopfhörern verbessern oder die Reaktionsgeschwindigkeit und Langlebigkeit von Informationsspeichern erhöhen.

Mit BMBF-Förderung Anwendungspotential erforschen
Ihre überraschende Entdeckung veröffentlichten die Wissenschaftler in diesem Jahr im Fachmagazin „Journal of Applied Physics“. Ihr als „Featured Article“ hervorgehobener Beitrag stieß auf große Resonanz in der Fachwelt. In einem gemeinsamen BMBF-Projekt mit den Fraunhofer-Instituten ISIT und IAF gehen sie jetzt noch einen Schritt weiter: Das ungewöhnliche Verhalten des Materials wollen sie genauer untersuchen und herausfinden, welche neuen technischen Anwendungen es ermöglicht.

Auf dieser Grundlage erforscht das ISIT die Einsatzmöglichkeiten von AIScN für Aktuatoren, während das IAF damit bessere Leistungstransistoren herstellen will. In engem Austausch mit beiden Fraunhofer-Instituten entwickelt die CAU-Forschungsgruppe das Material maßgeschneidert für verschiedene technische Anwendungen weiter. Denkbar ist auch der Einsatz in der Optoelektronik oder der Medizintechnik. Dafür arbeiten Wagner und Fichtner auch mit anderen Arbeitsgruppen aus den Bereichen Nanoelektronik (Professor Hermann Kohlstedt) und Transmissionselektronenmikroskopie (Professor Lorenz Kienle) der CAU zusammen.

„Damit lassen sich bahnbrechend neue Bereiche erschließen“
Wir konnten hier das erste Ferroelektrikum herstellen, das auf einem sogenannten III-V-Halbleiter basiert. Mit diesem Material lassen sich technisch bahnbrechende neue Bereiche erschließen, die mit den etablierten Ferroelektrika bisher nicht zugänglich waren – das könnte einen regelrechten Innovationsschub in der Mikroelektronik und Mikrosystemtechnik auslösen“, beschreibt Wagner das Potential der Entdeckung. Möglich war das vor allem durch die hervorragende Infrastruktur an der Kieler Universität. Mit einer hochspeziellen Sputteranlage des Kompetenzzentrums Nanosystemtechnik der CAU lässt sich die Zusammensetzung von Materialen gezielt ändern. „So konnten wir Materialien mit einem besonders hohen Skandiumgehalt von über 40 Prozent herstellen“, erklärt Fichtner. Die besonderen Organisation des Reinraums des Kompetenzzentrums boten die nötige Flexibilität, um völlig neue Materialien für die Mikrosystemtechnik zu testen.