Zeitenwende in der Industrie: Wie Mittelständler aus NRW Europas Verteidigungsfähigkeit stärken können
NMWP.NRW im Gespräch mit Dr. Hans C. Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV) über den nordrhein-westfälischen Beitrag zur Steigerung der europäischen Wehrfähigkeit und die daraus resultierenden Chancen für den Mittelstand.
Herr Dr. Atzpodien, nach der von der Politik angekündigten „Zeitenwende“ als Reaktion auf geopolitische Entwicklungen und Spannungen steht die deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie vor einem grundlegenden Wandel. Wie sollten sich insbesondere mittelständische Unternehmen – etwa solche aus Nordrhein-Westfalen – strategisch auf neue Anforderungen und Marktchancen einstellen?
Atzpodien: Auch Deutschland hat sich beim NATO-Gipfel im Juli 2025 in Den Haag zu dem Ziel bekannt, angesichts der östlichen Bedrohung der NATO künftig 3,5 % seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung und noch einmal 1,5 % für verteidigungsrelevante Infrastruktur auszugeben. 1 % vom BIP entsprechen nach heutiger Projektion gegen Ende des Jahrzehnts etwa 50 Mrd. €. Während das NATO-Versprechen auf einen Aufwuchs bis zum Jahr 2035 gerichtet ist, plant die amtierende Bundesregierung den Verteidigungsetat schon für das Jahr 2029 in der Größenordnung von 153 Mrd. €, also oberhalb der 3 %-Marke. Grund dafür ist die Tatsache, dass die Bundeswehr trotz des im Jahr 2022 beschlossenen Sondervermögens von 100 Mrd. € immer noch gewaltigen Nachholbedarf bei ihrer Ausrüstung hat, nicht zuletzt auch angesichts dessen, dass die Zahl der Soldatinnen und Soldaten ebenfalls deutlich ansteigen muss. Dies stellt uns als Ausrüstungsindustrie vor gewaltige Herausforderungen, nämlich bis einschließlich 2029 die Bundeswehr rundherum kampf- und damit abschreckungsfähig zu machen. Um dieses Kurzfrist-Ziel zu schaffen, müssen vorhandene Produkte und Ersatzteile etc. in deutlich gesteigerter Stückzahl produziert werden. Dies wird vielfach nicht allein mit den vorhandenen Lieferketten zu machen sein. Es müssen Lieferketten sehr schnell ergänzt und erweitert werden. Hier bestehen Chancen für mittelständische Lieferanten, und zwar umso besser, je konkreter und gezielter sie sich darauf vorbereiten. Mittelständler, die über viele, oftmals sehr stark spezialisierte Spitzen-Fähigkeiten verfügen, bilden schon heute zu maßgeblichen Teilen die Lieferketten der bekannten Systemhäuser. Ohne ihren Input wären die Spitzenprodukte der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland nicht vorstellbar. Dementsprechend wird es also auch bei der Erweiterung des Zuliefer-Portfolios mit dem Ziel, die Kapazitäten für viele bestehende Produkte schnell weiter hochzufahren, maßgeblich auf solche Mittelständler ankommen. Für diejenigen, die bisher noch wenig oder gar nicht im Rüstungsbereich engagiert sind, empfehle ich folgendes Vorgehen: Erstens sollte man sich im Unternehmen zunächst einem Selbst-Test unterziehen, in welchen Rüstungs-Lieferketten man mit den eigenen Fähigkeiten und Technologien gerne präsent sein würde, wenn man es sich denn aussuchen und wünschen könnte. Diese Analyse bildet gleichsam den Start für einen Aktionsplan, um dort auch tatsächlich hineinzukommen. Ungeachtet aller Hilfestellungen, wie wir als Verband unseren Mitgliedern zu geben versuchen, kommt es am Ende immer darauf an, sich bei seinem potenziellen Auftraggeber ganz handwerklich konkret als Lieferant qualifizieren zu müssen. In den meisten Fällen bestehen bei den potenziellen Kunden auf deren Homepage Portale für Zulieferer, die eine solche Qualifikation ermöglichen. Ferner kann es nicht schaden, sich mit Spezifika des Defence-Geschäfts vertraut zu machen, wie etwa dem Erfordernis spezifischer Bundeswehr-Zulassungen, dem öffentlichen Preisrecht und ggfs. auch den Anforderungen an eine Sicherheitsermächtigung für einen bestimmten Kreis von Mitarbeitern.
Der Bedarf an industriellen Kapazitäten und Fachkräften im Defence-Bereich wächst. Wie lässt sich dieser Bedarf aus Ihrer Sicht decken – auch durch den Transfer aus anderen Branchen, etwa der Automobilindustrie und dem Maschinenbau, ohne dabei bestehende Wirtschaftsstrukturen zu schwächen?
Ich denke, dass die in Teilen der Automobilindustrie oder des Maschinenbaus derzeit anzutreffende Unterauslastung für den Hochlauf bei Rüstung eher eine Chance bedeutet als eine Schwächung bestehender Strukturen. Dies sehe ich auch an der Dynamik, die unser Ruf „Autos zu Rüstung“ bei uns ausgelöst hat. Wir haben in Deutschland sehr viele industrielle Ressourcen, die dabei helfen können, den gerade beschriebenen, sehr kurzfristigen Hochlauf von Rüstungskapazitäten zu erleichtern. Dazu müssen wir aber strukturiert vorgehen und gezielt bestimmte „Bottlenecks“ beseitigen. So versuchen wir gerade, eine Art „Fähigkeits-Kataster“ zu entwickeln, welches Unternehmen unserer Branche, die nach zusätzlichen Kapazitäten suchen, dabei helfen soll, diese schnell zu finden. Gegebenenfalls können dabei auch die Wirtschaftsministerien der Bundesländer und des Bundes unterstützen. Engpässe ergeben sich bei Spezialitäten des Verteidigungsgeschäfts, wie beispielsweise bestimmten Zulassungen seitens der Bundeswehr, oder aber auch bei den Sicherheitsermächtigungen, die durch das Bundeswirtschaftsministerium erteilt werden müssen, wenn bestimmte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wirtschaft berechtigt sein sollen, z.B. mit geheimgeschützten Fertigungsunterlagen umzugehen. Hier mahnen wir beim Bund und bei den Verfassungsschutzämtern der Länder seit Längerem Beschleunigung durch eine Ausweitung der entsprechenden Bearbeitungskapazitäten an. Aber auch die Unternehmen selbst können hier schon vorausschauend agieren, indem sie darauf achten, dass sie für Defence-relevante Bereiche keine Mitarbeiter einsetzen, deren Sicherheitsermächtigung sich vor dem Hintergrund außen- und sicherheitspolitischer sowie geheimdienstlicher Erwägungen als schwierig erweisen könnte. Dies bezieht sich auf Staatsbürger aus Ländern, mit denen Deutschland nicht uneingeschränkt freundschaftliche Beziehungen unterhält, oder auf Personen, über die – ganz wichtig – unser Verfassungsschutz keine Auskünfte bei befreundeten Nachrichtendiensten über ihr Verhalten in den letzten fünf bis zehn Jahren einholen kann. Solche Konstellationen können erfahrungsgemäß zu Problemen bei der Erreichung einer Sicherheitsermächtigung führen, die von vorneherein vermieden werden können und daher auch sollten.
Krisenfeste Lieferketten und Versorgungssicherheit sind zentrale Herausforderungen für die Industrie. Welche technologischen oder organisatorischen Strategien sehen Sie als besonders zukunftsfähig, um NRW-Standorte hier robuster aufzustellen?
Tatsächlich kommt es auf stabile Lieferketten in den vor uns liegenden Jahren besonders an. Wenn Geschwindigkeit vorgelegt werden muss, dann bestimmt sich die Haltbarkeit einer Lieferkette nach dem schwächsten Glied. Mit anderen Worten: Es darf nicht passieren, dass alle Beteiligten einer Lieferkette auf einen einzigen Lieferanten warten müssen, nur weil dieser seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Dies würde auch die Beschaffungsverwaltung der Bundeswehr kaum verzeihen, denn die Truppe muss mit festen Zulaufterminen planen können. Daher kann man jedem Lieferanten nur empfehlen, gemeinsam mit seinem Auftraggeber die eigenen Zulieferketten vorab sehr sorgfältig auf kritische Schwachstellen hin zu analysieren. Bei solch einer Analyse sollte man auch Krisen-Bedingungen unterstellen, wie beispielsweise die Tatsache, dass in einem Spannungsfall sehr viele logistische Kapazitäten durch den von Deutschland zu leistenden „Host Nation Support“ für alliierte Truppen gebunden werden. Da die NRW-Industrie im Westen Deutschlands liegt, hat sie unter diesem Aspekt generell einen logistischen Vorteil. Ein weiterer Aspekt der Krisenresilienz betrifft Vormaterialketten, nicht zuletzt mit Rohstoffen und Seltenen Erden aus chinesischer Verarbeitung. Die Zuspitzung im Export solcher Rohstoffe von China in die USA zeigt, wie vulnerabel solche Abhängigkeiten machen können. Robustheit leitet sich am Ende aber auch aus der Befähigung ab, das nötige Personal für einen Fertigungshochlauf zuverlässig und in ausreichender Ausbildungs-Qualität am eigenen Standort zur Verfügung zu haben.
Initiativen wie DEFENCE.NRW zielen unter anderem darauf ab, technologieorientierte Unternehmen beim Einstieg in den Defence-Sektor zu unterstützen und gezielt in Wertschöpfungsketten einzubinden. Welche Bedeutung messen Sie solchen Unterstützungsangeboten bei, um Innovationskraft und industrielle Wertschöpfung in sicherheitsrelevanten Bereichen zu fördern?
Mit der Bündelung seiner Kräfte im Bereich Sicherheits- und Verteidigungstechnologien im NRW-Landescluster NMWP.NRW folgt NRW dem Beispiel anderer Bundesländer, insbesondere Bayerns, wo die Staatsregierung schon seit geraumer Zeit diesen Clustergedanken verfolgt. Es ist ein Verdienst von Ministerpräsident Hendrik Wüst und von Wirtschaftsministerin Mona Neubaur, dass dieser Netzwerkaufbau jetzt so entschlossen vorangetrieben wird. Wichtig ist dabei das Verständnis, dass wir hier auf zwei unterschiedlichen Handlungssträngen unterwegs sind. Der eine – sehr kurzfristige – ist auf die von mir beschriebene Ausstattung einer spätestens bis 2029 abschreckungsfähigen Bundeswehr ausgerichtet und fordert vor allem einen deutlich erhöhten Output an vorhandenen Produkten. Der zweite Handlungsstrang ist längerfristig angelegt und zielt auf die Befähigung unserer Industrie ab, auch dauerhaft zum Zwecke unserer konventionellen Rüstung innovative, State-of-the-Art-Technologien mit hoher Produktivität herzustellen Hier ist die erklärte Zielsetzung von DEFENCE.NRW, technologische Innovationen, wirtschaftliche Potenziale und strategische Kooperationen im Land voranzutreiben, besonders aussichtsreich. Dabei ist nicht zu vergessen, dass viele etablierte Defence-Hersteller, allen voran Rheinmetall, in NRW ansässig sind, was eine Vernetzung besonders leicht machen sollte.
Eine stärkere europäische Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie wird zunehmend diskutiert. Welche Rolle können NRW-Unternehmen in einer solchen europäischen Struktur übernehmen?
Eine stärkere europäische Rüstungszusammenarbeit erscheint schon seit Langem geboten, lässt sich aber nicht anordnen. Sie lebt primär von dem Willen europäischer Regierungen, für ihre Streitkräfte identische Produkte zu beschaffen und sich sodann gemeinsam mit der angesprochenen Industrie über geeignete Umsetzungsstrukturen für solche Programme einig zu werden. Daran hat es bislang in Europa vielfach gefehlt. NRW ist – wäre es eigenständig – die sechstgrößte Volkswirtschaft in der EU, so dass Unternehmen aus NRW nahezu immer eine Beteiligung an Zusammenarbeits-Programmen erwarten können. Hier wiederum ist die maßgebliche Unterstützung von Seiten der NRW-Landesregierung auch in Zukunft eine gute Grundlage, um den auf uns zukommenden Herausforderungen, wie immer sie sich konkrete darstellen werden, von Seiten der Wirtschaft schnell und agil entsprechen zu können.
Dr. Hans C. Atzpodien ist seit 2017 Hauptgeschäftsführer des BDSV. Zuvor war er in leitenden Management-Positionen im thyssenkrupp-Konzern tätig, darunter von 2007 bis 2012 als CEO der Sparte thyssenkrupp Marine Systems sowie von 2012 bis 2015 als CEO der Business Area thyssenkrupp Industrial Solutions mit einem Umsatz von 6 Mrd. €. Im Jahr 2009 gehörte Dr. Atzpodien zu den Mitgründern des BDSV, desssen Vorstand er seit der Gründung bis zum Jahr 2016 angehörte, davon ein Jahr als Präsident des Verbandes. Dr. Atzpodien ist gelernter Jurist und verfügt zudem über einen akademischen Abschluss in Politik- und Verwaltungswissenschaften.
